"Wir sind das Volk"Freiligrath inspiriert die Revolution
Seine Worte waren 1989 bei den Leipziger Montagsdemonstrationen in aller Munde. Aber die Wenigsten wissen das. Denn der Dichter Freiligrath selbst ist aus dem Blick geraten.
Wer heute im Internet den Suchbegriff Freiligrath eingibt, bekommt vor allem Treffer aus einer Freiligrath-Schule oder einer Freiligrath-Straße. Der Dichter selbst steht, vorsichtig ausgedrückt, nicht mehr im Zentrum des Interesses. Der Mann wurde ja auch schon vor 200 Jahren geboren, genauer gesagt, am 17. Juni 1810, und zwar in Detmold. Doch immer noch werden seine Gedichte als Steinbruch für treffende Verse genutzt. Eine unerwartete Renaissance erlebte er 1989 in der DDR, wo mancher den Revolutionär Freiligrath kannte. Wo dessen Schlachtruf "Wir sind das Volk" irgendwann nicht mehr nur als leeres Wort im Palast der Republik prangte, sondern aus tausenden Kehlen dem Politbüro in den Ohren klingelte.
"Das, was Ferdinand Freiligrath gemacht hat, hat er immer ganz gemacht", sagt Professor Kurt Roessler. "Er war mit ganzem Herzen Romantiker, später ganz und gar Revolutionär." Der 70 Jahre alte Roessler ist zwar eigentlich Weltallforscher, genauer Kosmochemiker mit dem Schwerpunkt Kometen, aber seine Leidenschaft gehört dem Dichter aus Detmold. 1997 gründete er den Arbeitskreis Freiligrath in der Grabbe-Gesellschaft. Der Dramatiker des Vormärz, Christian Dietrich Grabbe, war neun Jahre älter als Freiligrath. Er starb bereits 1836 in dem Nachbarhaus der Freiligraths.
Romantische und exotische Gedichte
In Detmold besucht der junge Ferdinand das Gymnasium, für ein Studium reicht aber das Geld nicht. Ein Onkel in Soest nimmt ihn in die kaufmännische Lehre. Er lernt Englisch und Französisch. 1831 geht er als Kontorist in eine Bank nach Amsterdam. Nebenbei schreibt er romantische, exotische Gedichte, begeistert sich für Victor Hugo und ferne Orte.
Erste Gedichte erscheinen in deutschen Zeitschriften. "Seine schönsten Gedichte hat er als kaufmännischer Angestellter geschrieben", urteilt Roessler. Seine exotischen Ausflüge kommen an, Karl May war später einer seiner größten Bewunderer. Noch später hat Freiligrath in der Schauspiel-Diva Marlene Dietrich eine Verehrerin, ihr Lieblingsgedicht "O lieb', solang Du lieben kannst!" wird 1992 an Marlenes Grab in Berlin rezitiert.
Nach ersten dichterischen Erfolgen kehrt Freiligrath nach Deutschland zurück, lebt in Barmen, Unkel am Rhein und Darmstadt. Reisen durch deutsche Lande führen ihn an die Realität heran. Erst setzt ihm Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. eine Jahrespension von 300 Talern aus, doch auch hier heißt es für den Dichter, "ganz oder gar nicht". Denn er versteht sich nun als politischer Dichter, stößt zunehmend an die Mauern der Zensur, erkennt die Pension als "Maulkorb". 1844 verzichtet er auf die eigentlich dringend benötigte königliche Unterstützung und bekennt sich offen zur Opposition. Über die Schweiz und Belgien zieht er nach London.
"Trotz alledem"
Doch 1848 erreichen ihn die Nachrichten von der Revolution auf dem Kontinent. Die Ereignisse inspirieren ihn. Mit Gedichten wie "Die Toten an die Lebenden" und "Schwarz-Rot-Gold" wird er zum "Trompeter der Revolution". 1848 entsteht auch "Trotz alledem", mit den Versen: "Nur, was zerfällt, vertretet ihr! Seid Kasten nur, trotz alledem! Wir sind das Volk, die Menschheit wir."
Freiligrath reist nach Deutschland. In Düsseldorf wird er vor Gericht gestellt, aber freigesprochen. Danach tritt er zeitweilig in die Redaktion der "Neuen Rheinischen Zeitung" ein und arbeitet in Köln mit Karl Marx, bevor er 1851 wieder ins Londoner Exil geht, um einem weiteren Prozess zu entgehen. Seine revolutionäre Phase endet. 1868 kehrt er nach Deutschland zurück und lässt sich in Cannstatt bei Stuttgart nieder, wo er am 18. März 1878 stirbt.
Was bleibt? "Er hat unbestritten historische Bedeutung", sagt der Präsident der Detmolder Grabbe-Gesellschaft, Peter Schütze. "Nicht nur als Dichter, sondern auch als politischer Lyriker der Vormärzzeit. Auch war er ein vorzüglicher Übersetzer und Briefe- Schreiber. Ansonsten ist sein Stern etwas verblasst". Bei aller Begeisterung räumt auch Roessler ein: "Manche seiner Gedichte sind pathetisch, viele vor allem zu lang."
Ein Straßenfest für einen Revolutions-Dichter
Dennoch soll der Geburtstag des Dichters am 17. Juni liebevoll begangen werden. In der kleinen Straße vor dem Fachwerkhaus der Freiligraths in Detmold wird es eine Art Straßenfest geben, kündigt Roessler an. Eine angrenzende Mauer wird mit schwarz-rot-goldenen Blumen bekränzt, Gedichte und Lieder werden rezitiert. Der Bürgermeister spricht und der Bielefelder Männergesangsverein Arion von 1859 bringt ein Abendständchen.